Zur Arbeitsweise des Michelin und seiner Ausgabe 2021 schrieb der Pariser Journalist Périco Légasse, 61, Autor der Sendereihe „Manger, c’est voter“ (Die Essensentscheidung ist wie eine Stimmabgabe) im französischen Parlamentsfernsehen (Public Sénat) und Chefredakteur fürs Savoir vivre im Nachrichtenmagazin „Marianne“ in seinem Blatt:

„Trotz mehrmonatiger Schließung und der tragischen Lage für die Gastronomie, deren Ausgang ungewiss ist, behielt der Guide sein Rating bei. Getrieben von seinem Marketing, besessen von seiner Kommunikation, fällt Gwendal Poulennec den Restaurants, die um ihr Überleben kämpfen, in den Rücken.

In dieser Welt der tödlichen Trägheit kann nichts die Gewohnheit unterbrechen. Morbide Mechanismen sind darauf programmiert, nicht innezuhalten, nicht in Frage zu stellen. Mit sieben Millionen Stimmen weniger Stimmen als sein Herausforderer behauptet Donald Trump beharrlich den Sieg und mobilisiert die Menge gegen das Parlament. Auf einer ganz anderen Ebene siegt ein berühmter Guide, dem die französische Gastronomie und Küche einen Teil ihres Renommees verdanken, der aber nur noch ein Schatten seines früheren Selbst ist. Seine Sterne hoben etwas mehr als ein halbes Jahrhundert lang Köche auf das Podest des Ruhmes, waren höchste Auszeichnung für Restaurants, die die traditionellen Tugenden der französischen Küche bewahrten – bis Ende der 1990er Jahre die ersten Fragen zu seinen kulinarischen Werten aufkamen.

Da war der Michelin vom Duo Henri Gault und Christian Millau überholt worden, deren Stil und Motivation vom Journalismus und nicht vom Tourismus geprägt waren. Davon irritiert, entschied sich der Michelin für einen Richtungswechsel, der den Weg in die Moderne ebnen sollte. Er trat in die Fußstapfen seiner Konkurrenten und konzentrierte sich auf Attitüde, Trend, Inszenierung und die Pflicht zur Innovation. Dabei verlor die 1900 von André Michelin gegründete Institution nicht sofort an Glaubwürdigkeit, sondern gab peu à peu ihre Grundsätze auf, um sich dem Zeitgeist von Werbung, McDonaldisierung und Pay-TV anzugleichen.

Schockiert von den Veränderungen der Zeit und überrumpelt von der galoppierenden Medienberichterstattung über Modeköche entsagte der Michelin dem Kurs einer besonnenen Evolution der großen französischen Küchentugenden und entdeckte die Kommunikation des Marketings – bis hin zur schädlichsten und perversesten Version einer Wissenschaft ohne Gewissen, um den Guide bei Erscheinen ins Gespräch zu bringen. Als gäbe es nichts Besseres, als einen dritten Stern an einen Künstler zu verleihen, der seine Küche als Œuvre präsentiert, bei dem es mehr zu sehen als zu essen gibt. Ein Sterneregen fällt auf Ateliers, in denen Plastikkunst das Rezept ersetzt und Saucen im Reagenzglas hergestellt werden. Seiner Zweige beraubt hat der Weihnachtsbaum der französischen kulinarischen Landschaft nur noch seine Kugeln und sein Lametta.

Daran arbeitete der derzeitige Direktor, Gwendal Poulennec, hart und verschärfte all die Probleme, durch die der Michelin seine Seele verlor. Illustre Köpfe rollen per Verlust des dritten oder zweiten Sterns ohne jede Erklärung, um Schlagzeilen zu machen und Medienwirkung zu erhöhen. Das Erscheinen des Guides wurde zur Show mit Glitzer und Cheerleadern, bei der sich die glücklichen Gewinner preisen lassen. Das war dieses Jahr wegen der Epidemie verboten. Angesichts der fünfmonatigen Schließung im Testjahr 2020, der auf ein Minimum reduzierten Aktivitäten sowie der kaum ermutigenden Aussichten gab es allen Grund zu der Annahme, dass Michelin aus gesundem Menschenverstand und vor allem aus Anstand auf die Ausgabe 2021 verzichten oder darin nicht zuschlagen würde.

Aber das ignoriert die Rücksichtslosigkeit eines nur auf seinen Erfolg bedachten Unternehmens. Es muss weiterlaufen, auch wenn das bedeutet, über Leichen zu gehen. Der Stern wird nie erlöschen, und selbst wenn gestorben wird, werde ich ihn weiter leuchten lassen. Also wird es 2021 eine Ausgabe des Michelin geben, mit sich zufrieden und triumphierend. Ich bin da, ich bleibe da, das Michelin-Männchen wird die Seinen erkennen! Es spielt keine Rolle, ob einigen Restaurants die Puste ausgeht, deren Mitarbeiter von einer ungewissen Zukunft verunsichert sind und Patrons eine katastrophale wirtschaftliche Lage fürchten, die Axt schlägt auch dann zu und trifft fast 100 Restaurants, die in der Ausgabe 2021 herabgestuft werden, entweder durch Verlust eines Sterns oder des Bib Gourmand, der ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis würdigt, oder durch Streichen aus dem Guide.

Natürlich gibt es auch Gewinner, die feiern. An ihrer Stelle würden wir uns zurückhalten, denn der tatsächliche Wert der 2021er Sterns ist mehr als fraglich. Vor allem für die Kollegen, die in Not sind und ihn in ihrem Kampf ums Überleben als Stich in den Rücken empfinden. Unter welchen Umständen fanden die Tests angesichts der Tortur statt, die die Gastronomie durchmachte. Konnten alle Bewertungen zwischen dem 2. Juni und 30. Oktober seriös erhoben, überprüft und abgewogen werden? Wer sagt, dass es die Leistungen, die einen Stern oder eine Auszeichnung verdienten, bei der Wiedereröffnung gibt. Wer sagt denn, dass die prämierten Köche nach vier oder fünf Monaten Krise ihr Leistungsniveau halten können? Was also ist der Michelin-Stern 2021 professionell und ethisch wert?

Niemand bat den Michelin, den Häusern in Schwierigkeiten zu Hilfe zu kommen, aber er hätte schweigen und sein Abwerten ebenso wie den Sternereigen unterbrechen können, bis die Aktivität wiedereinsetzt. Die Gastronomie weiß nicht, wie es weitergeht, aber das ist nicht das Problem des Michelin. Man braucht ja immer einen Floristen am Eingang des Friedhofs…“

*die Ausgabe 2021 in einer virtuellen Vorstellung mit TV-Köchin Sophie Menut-Yovanovitch am 18. Januar 2021 auf dem Eiffelturm.