Die Me too-Bewegung, 2007 als Hilfe gegen sexuelle Belästigung afroamerikanischer Frauen im Job entstanden, ermunterte seither viele Berufsgruppen, gravierende Missstände ihrer Branche publik zu machen. So auch 62 Köche von Sternerestaurants in 11 Ländern für eine gemeinsame Studie der Universitäten Cardiff und Lyon unter dem arg akademischen Titel „Blutiges Leiden und Dauerhaftigkeit: Wie Köche verkörperte Identitäten in Elite-Küchen schmieden“. Sie zitiert Betroffene mit krassen Aussagen: „Das Leben in einer Spitzenküche hat Ähnlichkeiten mit dem Leben in der Armee… Es ist wie diese Mentalität, wenn man durch Krieg geht. Du kommst raus und bist auf der anderen Seite stärker… Der Körper geht davon aus, dass er in den Krieg zieht.“ Glaubwürdigkeit verleihen diesen Klagen die Offenbarungen weltbekannter Küchenchefs wie René Redzepis schuldbewusstes „Ich war ein Tier, wütend wie die Hölle“, Marco Pierre Whites Beichte über „mein Theater der Grausamkeit“ oder David Changs Eingeständnisse über sein „explosives Verhalten“ sowie die Film- und Fernsehproduktionen The Bear, The Menu und Boiling Point.

Die schwer verständliche Leidensfähigkeit wird von den Autoren u.a. damit erklärt, dass sie „mit Vorstellungen von Beschäftigungsfähigkeit, Charakter und Wert verbunden ist… Durch das Leiden gibt es eine gewisse Erleuchtung, ein höheres Ziel… Es gibt im Verständnis der Köche keinen Weg, sich selbst zu entwickeln, ohne zu leiden… Leiden ist zentral für das Verständnis von Köchen, wer sie sind – sowohl als Individuen als auch als breiteres soziales Kollektiv“. Ein Koch sagte den Erforschern extremer Arbeitsbedingungen, die Tätigkeit in Küchen, „wo es sonst niemand aushalten kann“, zeigt, dass man „hart wie Nägel“ ist und „eine wichtige Rolle in der Branche spielt, die wie die Armee Rangabzeichen und Ehrenmedaillen verteilt“. Die vielen Bezüge zum Militärischen sind nicht zufällig. Denn der als größter, erfolgreichster und reformfreudigster Koch der Welt gefeierte Auguste Escoffier (1846-1935) hat vor 150 Jahren die noch heute geltenden Küchenstrukturen nach militärischem Vorbild ersonnen.

Der mit 13 Jahren an der Côte d‘ Azur in die Lehre gesteckte Schneidersohn wurde 1866 wehrpflichtig, kochte in Metz im Hauptquartier der Rheinarmee, kam am 28. Oktober 1970 während des deutsch-französischen Kriegs in Kriegsgefangenschaft nach Mainz, wo er hungerte und fror. Es gelang ihm, Küchenchef bei dem in Wiesbaden kommoder inhaftierten Marschall Patrice de Mac-Mahon zu werden, den er mit Eiern, Fisch, einfachem Fleisch und – vielfach variierten – Rüben bekochte. Nach 4 Monaten entlassen, machte er Karriere in Paris und begann ab 1884, mittlerweile Küchenchef im noblen Hotel Ritz in Monte Carlo, die Küchenarbeit zu reformieren. Deren Atmosphäre in großen Häusern war geprägt von wütenden, meist brutalen Chefs, mangelnder Organisation, Alkohol und Tabak als Droge sowie schwer erträglicher Hitze.

Escoffier reformierte den Küchenbetrieb nach seinen Armeeerfahrungen. Die Köche organisierte er als Brigade mit klarer Aufgabenverteilung: Chef, Seconde (Souschef), Chefs de Partie (für Vorspeisen, Fisch, Fleisch, Saucen, Beilagen, Dessert) mit jeweiligem Stellvertreter, Commis (Jungköche), Lehrlinge. Damit schuf er Hierarchie, Befehlslinie und Aufstiegsrahmen. Der Erfolg gab ihm Recht: Die neue Effizienz verkürzte die Wartezeit der Gäste auf ein Viertel und ermöglichte, dass den Gästen die unterschiedlichsten Gerichte eines Ganges gleichzeitig serviert werden konnten.

Seine organisatorische Reform flankierte er mit disziplinarischen Verhaltensregeln: strenges Mise-en-Place zur Vorbereitung auf den Dienst, Rauch- und Alkoholverbot bei der Arbeit, das (bei Verlassen der Küche makellose) Weiß der Kleidung als Vertrauensgarantie für die Restaurantgäste und das Quittieren jeder Anordnung mit einem deutlichen „oui chef“.

Damit wie bei der Armee jeder die Rangunterschiede sieht, regulierte Escoffier die Höhe der Kochmützen. Er selbst, nur 1,55 m groß, trug als Küchenchef eine besonders hohe, ließ sich aber nie damit oder am Herd fotografieren. (Und wer dem großen Chef das Militärische verübelt, kann ihm auch mangelndes Ehrgefühl nachsagen: Escoffier vermarktete sich als einer der ersten Köche – für den Brühwürfel von Julius Maggi.)