Auch zu den Tafelfreuden tischen die Trendfoscher tüchtig auf. Im Prinzip ist von den Gästen in ihrer unsicheren allgemeinen Lage über die geschäftigen Lieferanten bis zur kulinarisch scharfsinnigen, aber wankelmütigen Generation Z ein pragmatisches 2022 zu erwarten. An Neuem für neue Jahr erwarten die Prognose-Profis von Instituten wie af&co/Carbonate und WGSN von den Pilzen als Zutat des Jahres und dem Seetang als Klima-Helden bis zu den der Schwerkraft trotzenden Torten und (hoffentlich immer zahlreicheren) freundlicheren Gästen neben größerer Vielfalt auch mehr Respekt im genussreichen Ernährungssystem.

Arabica, der beliebteste, aber vom Klimawandel und Preissteigerungen bedrohte Kaffee der Welt, wird durch Robusta attackiert. Die bittere, stark koffeinhaltige Bohne ist weniger teuer und einfacher zu kultivieren. Aus Vietnam, wo sie vorherrschend angebaut wird, exportiert man sie mit einem (in US-Städten bereits sichtbaren) neuen Coffeeshop-Stil.

Baijiu, der chinesische Schnaps aus Hirse, Bohnen oder Getreide, wird von Influencern mit chinesischem Erbe auf den gleichen internationalen Status gebracht wie andere regionale Spirituosen à la Grappa, Sherry, Tequila.

Empanadas aus Argentinien mit ihrer Blätterteigverpackung, die alljährlich in Tucumán prämiert werden, oder Kolumbien mit goldbraun frittierter Maismehl-Massa-Beschichtung setzen sich mit Füllungen aus geschmortem Rindfleisch mit Rosinen und Oliven oder Aji de Gallina als Vorspeise und Hauptgericht durch.

Gin wird auf der ganzen Welt mit lokalen Geschmacksprofilen produziert – als Jin Jiji in Indien mit wilden Himalaya-Wacholderbeeren, Tulsi (in der ayurvedischen Tradition beliebtes aromatisches Blatt) und Cashewnüssen, als Four Pillars Bloody Shiraz Gin in Australien mit Shiraz-Trauben, als Sông Cáiin Vietnam mit grünem Kurkuma, Dschungelpfeffer, schwarzem Kardamom, Pomelo und weißer Süßholzwurzel.

Hibiskus, dessen herbe Blüten in Mexiko spritzige Aguas Frescas süß-säuerlich aromatisieren oder in Westafrika für Vitamin C-reichen Tee namens Bissap oder Zobo aufgegossen werden, bereichern den Whole Foods-Trend in Fruchtaufstrichen, Joghurts und Getränken – und wirken auch durch ihre schöne karminrote Farbe in ungesüßtem Wasser von Ruby Hibiscus, Vital Proteins Hibiscus Beauty Collagen oder YoBucha Strawberry Hibiscus Kombucha Yogurt.

Indien ist auf dem Vormarsch: seine kulinarischen Traditionen und Nuancen der vielen Regionen ebenso wie die moderne Interpretation altehrwürdige Gerichte – beispielsweise Gurda Kapoora aus Ziegennieren und -hoden, roten Zwiebeln und Pao.

Jollof-Reis, das geschmacksintensive westafrikanische Grundnahrungsmittel wird von schwarzen Unternehmern, Köchen und Gastronomen in Tiefkühlgerichten, Gewürzsets und Getreidebeilagen global promotet.

Kernza wird als Cornflakes, in Pasta oder anderen Bio-Vollkornprodukte wie Tortilla-Chips beworben werden. Das mehrjährige Weizengras, vom Land Institute in USA mit süßem, nussigem Geschmack und langen Wurzeln entwickelt, blüht im Zeitgeist als ideal für Nährstoffkreislauf und Bodenökologie.

Labor-Huhn. Gezüchtetes Fleisch aus tierischen Zellen ist auf dem Weg zur Zulassung durch staatliche Lebensmittelbehörden. Als eines der ersten Produkte wird Hühnchen auf den Markt kommen. In den USA ist bereits pflanzliches Hühnchen von Unternehmen wie Impossible Foods und Beyond Meat erhältlich; die Lebensmittelindustrie, die satte Gewinne wittert, wird es per Marketing und Werbung schmackhaft machen wollen.

Laksa, aus Malaysia zu einem Signature Dish in Singapur aufgestiegen, kombiniert Beliebtes des Fernen und Südostens: schlürfbare Nudeln, duftende Aromen, cremiges Kokos-Curry, funky Gewürzpaste, gekrönt von hartgekochten Eiern, frischen Garnelen oder gebratenem Tofu.

Pilze kommen in fast jeder Form ins und ans Essen, von den Produkten der aufblühenden kleinen städtischen Zuchtanlagen über die dicken Königsausternpilze als Ersatz für Jakobsmuscheln bis zu Japans Nationalstolz Koji, der mit dem begehrten fünften Geschmack, Umami, auftrumpft. Sie beglücken aber über den Küchen-Status als Zutat des Jahres hinaus auch als Psilocybin-Pilze das steigende Interesses an Psychedelika.

Präbiotische Boosts tauchen in mehr Arten von Lebensmitteln auf, vor allem in Getränken. Die Inhaltsstoffe werden als Unterstützung des Immunsystems beworben, das mit einem gesunden Darm verbunden ist.

Swicy und swalty werden als neue Wortschöpfungen die Mashups bereichern. Die neue Phraseologie spiegelt eine noch breitere Palette von Geschmacksfusionen wider, die herzhafte Gewürze und Hitze mit Süße verbinden. Die südkoreanische Sauce Swicy zu Brathähnchen schmeckt wie ein Mix aus Gochujang und Ketchup.

Seetang als Inbegriff „regenerativer Landwirtschaft“ wächst schnell, ist vielseitig verwendbar, hat ein hervorragendes Nährwertprofil und entzieht als nachhaltiges Superfood der Umwelt dauerhaft Kohlendioxid.

Süßes Leben. „Wir alle brauchen Dinge, die süß und farbenfroh und fröhlich und verspielt sind, besonders jetzt“, meint af&co-Präsident Andrew Freeman und denkt an eine Renaissance von Cocktails wie Blue Lagoons, Tequila Sunrises, Long Island Eistee und Amaretto Sours, die mit gesünderen Säften, weniger Zucker und besseren Spirituosen gemixt werden. Pinterest prophezeit einen Boom bei „Schwerkraft trotzenden Kuchenideen. Die Leute – besonders Millennials, Gen X und Boomer – werden aufwendige Kuchen herstellen, um ihre Stimmung auszudrücken“.

Und auch das noch: Freundlichkeit und Verständnis der Gäste steigen als Folge der Service- und Produktprobleme während der Pandemie und aufgrund des wachsendes Interesses an der historischen und kulturellen Natur von Lebensmitteln und ihren Auswirkungen auf das Klima. Jennifer Zigler, stellvertretende Direktorin für Essen und Trinken beim weltweiten Marktforschungsunternehmen Mintel, drückt den Optimismus der Prognosen etwas zurückhaltender aus: „Wir alle haben diese stressigen, ängstlichen Jahre durchgemacht und es gibt diese Bereitschaft, ein wenig Empathie und Verständnis aufzubringen.“

Foto: www.kelp-meeresalage.de