Ausführliche Analyse statt spektakulärer Auf- und Abwertungen: Auf 109 Seiten erfasst Frankreichs La Liste die Lage der Corona-geschädigten Gastronomie in aller Welt sowie deren Aussichten und ersetzt mit dieser Studie ihre alljährliche Rangliste der 1000 besten Restaurants auf Erden. Die ermittelt sie in gastfreundlichen Zeiten durch einen Algorithmus, der Bewertungen in Restaurantführern, Presse, Blogs und sozialen Netzwerken, gewichtet nach deren Glaubwürdigkeit, berechnet. Sie sind in der Datenbank für 25.000 Spitzenlokale in 200 Ländern erfasst.

Teil 1 der von Chefredakteur und Mitbegründer Jörg Zipprick geleiteten Studie, die seit gestern unter www.laliste.com auf Französisch und ab Dienstag auch auf Englisch zu lesen ist, beschäftigt sich mit den staatlichen Restriktionen und den finanziellen Einbußen in der gastronomischen Welt. Der zweite Teil schildert „Veränderung, Belastbarkeit und Initiativen“ während des Lockdown. Und das dritte Kapitel füllen 36 Seiten mit „Hoffnungen und Träumen“ – aus denen hier zitiert wird:

„Während wir diesen Bericht schreiben, scheinen sich zwei sehr unterschiedliche Wege zu eröffnen:

  • Das Best-Case-Szenario hängt von der Verfügbarkeit von Impfstoffen, ihrer Wirksamkeit und ihrer Akzeptanz in der Öffentlichkeit ab. Im Idealfall könnte dies eine Rückkehr des Tourismus und der Veranstaltungen ab dem dritten Quartal 2021 bedeuten. Eine langsame und allmähliche Erholung, die mit fortschreitenden Impfungen robuster wird. Wir würden dann auf eine Rückkehr zum Wachstum und einen Rückgang der Arbeitslosigkeit hoffen.
  • Das Worst-Case-Szenario könnte eintreten, wenn die unvollkommene Wirksamkeit von Impfstoffen zusammen mit logistischen Problemen, Nebenwirkungen oder Mutationen des Virus, die die Wirkungsweise der Impfstoffe beeinflussen, zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Wirtschaftskrise führen, die die soziale Stabilität bedroht.

Unabhängig vom Szenario ist eine Rückkehr zu den Normen vor Covid-19 nicht garantiert, in der Gastronomie genauso wie in allen anderen Branchen…

Die Rückkehr zur authentischen regionalen Küche ist seit Jahren ein Trend, nun beschleunigt die Covid-19-Pandemie ihre Prinzipien: Lokale Produkte, kurze Lieferketten, Bauernprodukte und sogar Bio-Gemüse von Nachbarn stehen im Rampenlicht. Als Qualitätsgarantie erwartet der Gast eine überprüfbare oder sogar zertifizierte Herkunft. Für einen Koch bringt es einen erheblichen Mehrwert, eine eigene Farm, eigenes Vieh oder zumindest eine Beteiligung zu haben. Die Lebensmittelindustrie wird behaupten, sich dieser Herausforderung zu stellen, aber die Köche können die Grundsätze sowohl in der Praxis als auch im guten Glauben besser anwenden…

Wie immer in Zeiten großer Unsicherheit denkt man an Bewährtes. Statt eines großen Menüs mit vielen Gerichten bevorzugt man etwas, in dem man schwelgen kann. In deutschen Restaurants gibt es wieder große, großzügige Gerichte, die man ganz im Zeitgeist teilen kann, wie Kapaun mit schwarzen Trüffeln unter der Haut, Kalbsnieren im Fettmantel oder gefüllte Kalbsbrust. Jan Hartwig vom Restaurant Atelier im Bayerischen Hof in München bietet klassisch auf der Karkasse im Rohr gebratene Dombe-Ente: „Völlig alte Schule, kein Sous-Vide. Das ist für mich echtes Kochen! Eine Taubenbrust im Plastikbeutel per Knopfdruck bei 65° zwölf Minuten garen, das kann auch ein dressierter Schimpanse.“ Die Renaissance der großen bürgerlichen Küche beschränkt sich, wie der Erfolg von Odette at Home in Singapur zeigt, nicht nur auf Westeuropa. In Chicago bietet das für avantgardistische Küche bekannte Alinéa Filet Wellington mit Waldpilz-Duxelles, Rotweinsauce, Meerrettichcreme, 50/50-Kartoffelpüree à la Robuchon und dunklen Schokoladenpudding mit Vanilleschlagsahne sowie Haselnusscrumble für 34,95 $.

In Frankreich wird Gilles Tournadre, der bekannteste Koch der normannischen Gastronomie, sein Restaurant im Januar 2021 für „mehr Geselligkeit“ und seine Küche auf „mehr Ursprünglichkeit“ umgestalten. Le Grand Véfour in Paris eröffnet eine 100-Plätze-Terrasse für französische Traditionsgerichte. Und Marc Veyrat kündigt ein nostalgisches Bistro an, denn „wenn es endlich vorbei ist, brauchen wir menschliche Wärme, dazu eine Küche wie bei Muttern, eine Rückkehr zur Tradition, aber mit meiner Signatur.“ …

Jede Bewegung erzeugt ihre eigene Gegenbewegung. Sobald die Pandemie endet – zumindest die ängstliche Atmosphäre nachlässt – möchten die Gäste das Geld ausgeben, das sie im Lockdown gespart haben, und freuen sich, endlich wieder leben zu können. Stellen Sie sich so etwas wie die Zwanziger Jahre vor, die der Spanischen Grippe und dem Ersten Weltkrieg folgten. Dieser Appetit auf das Leben könnte zu einigen Jahren des Wahnsinns führen, der sich um eine Gastronomie dreht, die sich der Geselligkeit und dem Vergnügen verschrieben hat…

Laut Psychologen brauchen wir zwischen 18 und 254 Tage, um eine Gewohnheit anzunehmen oder zu verlieren. Während des Lockdown konnte sich jeder daran gewöhnen, zu Hause zu kochen, zu Hause zu essen, schnell mal zwischendurch zu essen, Essenszeiten zu wechseln, Zutaten sorgfältig auszuwählen, sein Lebensmittelbudget anders aufzustellen – und nicht auswärts zu essen. Was immer davon bleiben mag, es ist kaum mit dem Modell vieler High-End-Restaurants vereinbar. Dieses wurde um den Küchenchef herum gebaut und hängt oft von seiner ganz persönlichen Vision der Küche ab. Service, Timing und die Art und Weise, wie die Gerichte erklärt werden, können dem Gast das Gefühl geben, ein Statist in der Inszenierung des Küchenchefs zu sein…

Viele Restaurants haben sich allmählich von ihrer ursprünglichen Gästeklientel entfernt und ziehen keine betuchten Einheimischen mehr an, den Arzt, Apotheker, Einzelhändler. Manchmal liegt es am Preis, aber häufiger daran, dass die angebotenen Menüs zu artifiziell sind und die Vision des Küchenchefs über das Vergnügen des Gastes stellen. Wenn High-End-Restaurants ihre lokale Kundschaft nicht zurückgewinnen, werden sie unabhängig von ihrer Bedeutung in künftigen Krisen wieder erhebliche Verluste erleiden.

Um diese unverzichtbaren Gäste anzulocken, muss für sie gekocht werden und nicht gegen andere Köche in einer Art egozentrischem Wettbewerb der Selbstbeweihräucherer.“

PS: In der Weltrangliste behalten alle Restaurants ihre 2020er Plätze, darunter unter den 100 besten die deutschen Lokale Schwarzwaldstube, Klaus Erfort, Aqua, Sonnora, Victor’s, Vendôme und Atelier.

Foto: La Liste.com