Schon Lessings Nathan der Weise wusste: „Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab.“ Warum soll da der Michelin nicht weismachen, 12 Tester haben für seinen deutschen Guide 2021 in nur 6 vollen Testmonaten die Küchenleistungen von 1371 Restaurants seriös prüfen und dabei verlässlich herausschmecken können, das 99 Restaurants eine bessere oder schlechtere Bewertung verdienen. Für die dümmsten Kinder unter seinen Lesern tischt der Guide die Mär auf, er handle dabei aus „größtem Respekt“ vor der „deutsche Gastronomie in der außergewöhnlichen Krise“.

Glauben die restlichen Leser, der Guide sei in dieser Coronazeit, in der niemand weiß, wie es weitergeht, zielführender Wegweiser?

Wahr ist, dass der von Sponsoren wie Metro, Porsche oder Blancpain unterstützte Michelin nur deshalb erschienen ist, weil er genauso um seine Existenz kämpft wie die Gastronomie. Wie schlecht es ihm geht, zeigt sich am drastischsten an seiner Auflage in Frankreich: Sie ist vom Status des meistverkauften Buchs im Lande mit 600.000 Exemplaren auf fast 35.000 im letzten Jahr heruntergekommen. Dieses Jahr verschärft sich seine Krise. Der Michelin-Reifenkonzern, der die Restaurant- und Reiseführer 2011 in die wirtschaftliche Selbstständigkeit von Michelin Travel Partner (MTP) schickte, zahlte denen seither jährlich (offiziell unbestätigte) 20 Millionen € für ihre weltweite Verbreitung des Namens Michelin, die er als Pneu-Promotion würdigte. Letzten Juli verkündete der Konzern intern, ab diesem Jahr nur noch 4 Mio zu berappen. Die Begründung notierte der für MTP im Pariser Stadtteil Boulogne zuständige Betriebsrat so: „Die Botschaft ist klar: Die Markenunterstützung ist heute nicht mehr viel wert.“ Und für die MTP-Zukunft protokollierte er: „Die verbleibenden Aktivitäten in Boulogne sind in keinem guten Zustand… Gedruckte Guides haben keine Priorität mehr… Die Zukunftsaussichten sind für MTP beunruhigend und es ist zu befürchten, dass die Fragmentierung und Einstellung bestimmter Aktivitäten in Boulogne gerade erst beginnt.“ Bekannt ist bereits, dass von den 63 Mitarbeitern 10 gegangen werden.

Dass Guide-Chef Gwendal Poullennec um seinen Job kämpft, ist verständlich – wie er dabei nicht nur Köche, sondern auch die Seriosität des Guides in die Pfanne haut, steht hier in den Beiträgen „Die neue Rolle des Michelin: der Florist am Friedhof“ vom 27. Januar 2021 und „Päppeln Tim und Struppi den Michelin wieder auf?“ vom 10. Februar.

Über Poullennecs Chancen urteilte letzten Dienstag das francophone belgische TV (RTBF) in einem längeren Beitrag unter dem Titel „Rückläufige Verkäufe, Kritik von Küchenchefs … Stirbt der Michelin?“ Darin wurde u.a. dargelegt, dass Sterneköche wie Michel Bras und Marc Veyrat in Frankreich oder Karen Keygnaert in Belgien aus verschiedenen Gründen nicht mehr in dem Guide stehen wollen. „Ich war nahe am Burnout, hatte keine Freude mehr an der Arbeit und an der sakralen, um nicht zu sagen Grabesstille eines Sternerestaurants,“ erklärt die bislang einzige Sterneköchin Flanderns, warum sie ihr legeres Bistro Cantine Copine in Brügge eröffnete. Marc Veyrat, der sieben Drei-Sterne-Köche ausgebildet hat und seinen dritten Stern mit einer schwachsinnig anmutenden Michelin-Begründung verlor, ging deswegen als erster Koch vor Gericht (wo sein Antrag, einen symbolischen Euro als Wiedergutmachung zu erhalten, noch nicht entschieden ist). Veyrat will nicht länger hinnehmen, dass „der Guide von der Angst lebt, die er bei den Köchen auslöst“. Bras, der den öffentlichen Verzicht auf die drei Sterne mit den gastronomischen Umständen dieser Auszeichnung begründete und in Küche wie Restaurant unverändert weitermachte, bekam daraufhin von Michelin nur noch zwei – worunter weder sein Ego noch sein Geschäft litten.

So bedeutungslos ist die Wirkung der Sterne fürs Ansehen und Geschäft nicht immer. RTBF zitierte eine „Analyse der finanziellen Gesundheit der Zwei-Sterne-Restaurants in Belgien“. Darin attestierte der Wirtschaftsprüfer Etienne Fronville: „Im Jahr 2018 weist von den 20 analysierten Restaurants die Hälfte im Vergleich zu 2017 einen Nettoverlust auf. 3 schreiben sogar rote Zahlen. Die Tendenz ist steigend.“ Von den 7 Lokalen, die in den 4 Jahren zuvor einen ihrer beiden Sterne verloren, „haben 5 ein negatives Eigenkapital“, also mehr Schulden als Vermögenswerte. RTBF zitierte auch den Ökonomie-Professor Olivier Gergaud aus Bordeaux: „Im Jahr nach dem Verlust des Sterns liegt der beobachtete Gewinnrückgang in der Größenordnung von 100 %… Diese schwere Sanktion könnte das Ausmaß an Stress und Müdigkeit erklären, das innerhalb des Berufs zu spüren ist… Wir schließen daraus, dass die Michelin-Sterne kein Glücksfall für die Gastronomie sind.“

Das sehen 45 aufgewertete deutsche Köche heute sicherlich anders – hoffentlich noch lange…

*Foto: Gästehaus Klaus Erfort, Saarbrücken (das seinen dritten Stern verlor)