Aufgelöste Gummibärchen, Eindruck von Drogerie, kastrierter Wein – die Probenurteile fielen harsch aus, als alkoholfreie Weine erstes Medieninteresse weckten. Wer beim Wein nüchtern bleiben wollte, bekam ernüchternde Urteile der Trinkfesten eingeschenkt: ein Nebenprodukt der Weinindustrie, das sich gezielt an Nichtweintrinker richtet und einem echten Weinfreund kaum zuzumuten ist. Vor zwei Jahren resümierte nach einer Falstaff-Probe Wein-Chefredakteur Peter Moser: „Alkoholfreier Wein: Lass es sein!“

Diese Woche prostete in der New York Times deren Weinautor Eric Asimov: „Die neue Generation alkoholfreier Weine ist vielversprechend.“ Und erweiterte die jahrhundertealte „in vino veritas“-Glaubensfrage um den aktuellen Zweifel: „Verliert Wein seinen Geist, wenn man ihm den Alkohol entzieht?“ Damit seine Stammleser nicht umblättern, beruhigte er sie im ersten Satz: „Wein ist ohne Alkohol kaum vorstellbar. Es ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Textur, seines Geschmacks, seiner Komplexität und natürlich der Begeisterung.“

Doch dann nahm er gleich einen Riesenschluck aus der Pulle: „Das Interesse an alkoholfreiem Wein ist in den letzten Jahren rasant gewachsen“ – nämlich um 34 % vom 20. Februar 2020 bis zum 20. 2. 21, nachdem es in der Vor-Pandemie Zeit der USA 4 Jahre lang stagnierte. Trotz der frappanten 34 % hat der alkoholfreie Wein dort einen Marktanteil von 0,17 %. Das klingt läppisch, macht aber 36 Mio $.

Rasant wie Asimov sieht auch dessen Kollege in der Frankfurter Allgemeinen die Entwicklung: „Die Nachfrage steigt und steigt. Die Schlachtrufe ‚Low-Alkohol‘ und ‚No-Alkohol‘ sind längst im Mainstream“ – eine sehr exklusive FAZ-Meinung. Denn laut Deutschem Weininstitut (DWI) liegt der Marktanteil des alkoholfreien Weins hierzulande ebenfalls nur „im Promillebereich“. Dieser marginale Anteil am Gesamtverkauf könnte auch hiermit zusammenhängen: Laut einer Umfrage der Marktforschungsfirma Nielsen für das DWI wissen lediglich 15 % der Deutschen, dass es Wein gibt, der nicht betrunken macht.

Immerhin schon seit 2008, als sich der Winzer Carl Jung aus Rüdesheim im Rheingau das Patent dafür sicherte. Diese Art Wein schaffte es im Vergleich zu den Umsätzen des 2006 auf den Markt gekommenen alkoholfreien Biers in einem Jahrhundert nicht mal zum Nischenprodukt. Führend in dem nüchternen Weinbusiness scheint nun der Geisenheimer Nobelwinzer Johannes Leitz, der sich vor einem Dezennium von dem norwegischen Koch Odd Ivar Solvold inspirieren ließ. Der leitete aus der Höchststrafe seines Landes von 10 % des Jahreseinkommens für Trunkenheit am Steuer die Notwendigkeit von alkoholfreiem Wein am Restauranttisch ab (und erklärte sich bereit, den gleichen Preis wie für konventionelle Weine zu zahlen). Leitz hatte wegen seiner damaligen Herzprobleme ein offenes Ohr für die Produktentwicklung.

Er nimmt dazu eigenen Wein (statt billige Trauben aufzukaufen) und wendet die Vakuumdestillation an, bei der ein Wein in seine Bestandteile zerlegt, vom Alkohol befreit und wieder zusammengefügt wird. Bei aller Behutsamkeit wird das, was Wein begehrenswert macht, beeinträchtigt. Wie sehr, drückt Leitz so aus: „Man kann es nicht mit Wein vergleichen. Es ist anders und Sie werden vielleicht ein wenig enttäuscht sein, aber wenn Sie ein gutes Getränk mit wirklich gutem Essen brauchen, kommt meins dem Wein am nächsten.“ Asimov nach der Probe der Leitz-Produkte Riesling, Cabernet Sauvignon sowie weißem und rosé Schaumwein: „Vielleicht ein bisschen süß, keines würde mit einem Wein verwechselt werden. Mein Favorit war der Riesling, die einzige Flasche, in der ich den Sortencharakter spüren konnte.“

Foto: Schatzi Wines, Milan (NY)