Sex sells, Horror ebenfalls und besonders in der neuen Kinosaison. Deshalb kündigt das US-Foodmagazine Eater auch Filme, die beim Essen den offenbar unersättlichen Appetit auf Grausen und Entsetzen befriedigen, in seiner Vorschau auf den Herbst 2022 an – neben Restauranteröffnungen, Kochbüchern, Trends in Cocktailbars und Schnapsbrennereien sowie der wachsenden Bedeutung afro-amerikanischer Köche und weiteren Ausprägungen der unverändert modischen Fusionsküche. Eater-Autorin Amy McCarthy gruselt sich, weil das Horrorspektakel „The Menu” (gestern vorab auf dem Toronto International Film Festival gezeigt) einer der meistangekündigten Filme ist.

Darin geht, während die Kamera über einen stahlblauen Speisesaal schwenkt, eine kleine Gruppe aus Tech Bros, Promis, Bankern und Foodies zu ihren Tischen, vorbei an einer Küche, in der eine Brigade gleich uniformierter Köche mit fast militärischer Präzision arbeitet. Sie verwandeln Milch mittels Stickstoff in einen pulvrigen „Schnee“ und plattieren Halbkügelchen fermentierter Gurkenmelone akribisch mit einer Pinzette auf schwarzem Schiefer. Fotos sind verboten, denn der Küchenchef glaubt, dass die „Schönheit seiner Kreationen in ihrer Vergänglichkeit liegt“. Als er die offene Küche betritt, konzentriert sich sofort alles darauf, Gurkenstücke und Milchschnee im Amuse-Bouche zu vereinen. Das Abendessen im hochexklusiven Restaurant Hawthorne beginnt – eine erschreckende Aussicht.

Denn das Hawthorne auf einer entlegenen Insel ist die Bühne für den Horror in „The Menu“. Selbiges wird abends für 1.250 $ pro Person nur 12 Gästen serviert. Es bietet Molekulares mit allerlei Gelen, Schäumen und Fermenten, das Ambiente ist minimalistisch, leicht industriell. Der Küchenchef kommandiert kühl und mit erschreckender Präzision, sein plötzliches Händeklatschen ist Antrieb und Signal, dass gleich der nächste Gang kommt. Das Galamenü des grausigen Abends führt, umrahmt von sarkastischer Kritik am Kapitalismus und detailliertem Dokumentieren der in jüngster Zeit bekanntgewordenen Auswüchse des Restaurantbetriebs (körperliche Verletzungen, psychische Missbräuche, sexuelle Belästigungen) in den Horror mit menschlichen Grundängsten und schlimmsten Neurosen bis hin zum Wahn der Gäste, dass sie selbst Teil der Gerichte wären.

Ebenfalls im November soll Bones and All starten, in dem ein junges Paar durch Amerika reist und eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit dem gemeinsamen Heißhunger hat, andere Menschen zu essen. Beide Filme sind neue Höhepunkte im jahrzehntelangen Streben des Horrors, das Essen zu nutzen, um die Zuschauer zu Tode zu erschrecken. In der 1931er Verfilmung von Bram Stokers Dracula labt sich der berühmteste Vampir am Blut seiner Opfer, seit 1968 frisst Zombie, eine der häufigsten Horrorerscheinungen, und seit 1981 Hannibal Lecter, der soziopathische Kannibale beim Schweigen der Lämmer, menschliche Gehirne. Bei der Vorführung der grundlegendsten Ängste (ermordet, gefressen werden) gibt die Filmbranche vor, die Zuschauer per Horror mit sozialen Tabus und der Willkür sozialer Normen zu konfrontieren oder Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität zu zeigen.

Für den Rest der Welt ist es kein Trost, dass laut Adam Lowenstein, Professor of Film and Media Studies an der Uni Pittsburg, das wahllose, gewalttätige Gehirnfressen der Untoten wie in George Romeros legendärem Zombiefilm „Dawn of the Dead“ untrennbar mit der Besessenheit der amerikanischen Kultur vom Massenkonsum um jeden Preis verbunden ist. „Essen ist so grundlegend für die menschliche Erfahrung und das Überleben,“ doziert Lowenstein, „dass man bei einer ungerechten Verteilung von Lebensmitteln anfängt, zu wirklich zentralen Fragen der Gesellschaft zu gelangen, und wenn Menschen keinen Weg finden können, fair zueinander zu sein, wird Horror versuchen, diese Dynamik auszugleichen, und es wird es nicht auf eine Weise tun, die hübsch und schön und damit leicht verdaulich ist.“ Das habe schon der Philosoph Jean Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert befürchtet: „Wenn die Menschen nichts mehr zu essen haben, werden sie die Reichen essen.“ Horrorfilmer Romero dachte das weiter: „Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, werden die Tote auf der Erde wandeln.“ Bis dahin reicht es vermutlich den meisten Zuschauern, wenn sich im französischen Horrorfilm „My Skin“ eine erfolgreiche Karrierefrau selbst verstümmelt, um eine Art emotionale Sättigung zu finden – und damit bei einem glamourösen Abendessen beginnt.

Foto aus The Menu/Searchlight Pictures